Persönliche Erfahrung - Manchmal muss man stur sein
Magazin Der Autostadt Wolfsburg 04/07 Stefan Scheytt
Die Frankfurter Architektin Ursula Fuss überlebte einen Sturz aus 15 Meter Höhe.
Seither kämpft sie als Rollstuhlfahrerin für „barrierefreies Bauen“
Sie habe Treppen geliebt, sagt sie, diese herausfordernde Geste, diese Einladung eines Gebäudes, es mit Kraft zu erobern.
Man kann sich Ursula Fuss gut vorstellen, wie sie, 1,82 Meter groß und schlank und sportlich, am liebsten gleich zwei Stufen
auf einmal nahm beim Erobern. Zum letzten Mal hat sie das vor 14 Jahren getan.
Sie sitzt in ihrem Rollstuhl vor dem Panoramafenster ihres Architekturbüros in Bergen-Enkheim, das einen grandiosen Blick auf die Skyline Frankfurts freigibt. „Ohne Erschließung durch Aufzüge gäbe es keine Hochhäuser und keine Frankfurter City, wie wir sie kennen“, sagt Ursula Fuss. Sie gleitet durch den Raum, kommt mit einem Architekturband zurück, zeigt Bruegels berühmtes Bild vom Turmbau zu Babel, zeigt auf die Rampe, die sich aufsteigend um den Turmstumpf legt. Sie spricht über alte Opernhäuser und Schlösser mit sanften Auffahrten für die Kutschen. Sie erzählt von Markthallen ohne Schwellen und Treppen, die das Geschäft der Händler nur behinderten. Und von Bordsteinkanten, die man für Autos im Boden versenkt.
„Die Erschließung unserer Welt, das ist mein Thema“, sagt Ursula Fuss.
Die Erschließung der Welt wurde zu ihrem Thema durch einen Sturz von einem Balkon aus 15 Metern Höhe. Wie durch ein Wunder überlebte sie und erwachte nach einigen Tagen aus dem Koma, querschnittsgelähmt. Der Unfall vor 14 Jahren, sie war 33, hat Ursula Fuss´ Bewegungsfreiheit für immer eingeschränkt – und er hat gleichzeitig ihr Leben in Bewegung versetzt wie nichts sonst zuvor. „Früher habe ich das gemacht, was ´man` als Architektin eben so macht“, sagt sie. „Was ich jetzt mache, barrierefreies Bauen, das bin ich.“ Aus der Geschichte des leidgeprüften Hiob in der Bibel, der sie im Krankenhaus zufällig begegnet war, zog sie für sich die Antwort, dass es in Zukunft wohl ihre Aufgabe sei, Barrieren zu schleifen und Bewegung zu ermöglichen. Noch im Krankenhausbett machte sie für einen anderen querschnittsgelähmten
Patienten erste Skizzen zum rollstuhlgerechten Umbau von dessen Bad zu Hause.
„Architektur heißt nicht, statisch Stein auf Stein zu setzen. Gute Architektur ist in Bewegung und macht Bewegung möglich; sie schafft Räume, in denen sich Menschen mit unterschiedlichen Fähigkeiten begegnen und berühren können.“ So spricht sie jetzt vor anderen Architekten und Behördenmitarbeitern, als Gutachterin, Preisrichterin und als Dozentin für „barrierefreie Systeme“ an der Fachhochschule Frankfurt. Und immer argumentiert sie dabei, dass es ja längst nicht nur die Rollstuhlfahrer sind, die durch Treppen, Schwellen, Türen behindert werden, sondern auch Mütter mit Kinderwägen,
Menschen mit Cityrollern, Gehhilfen und Inlinern, Alte, Schwache, Vergipste
„30 Prozent der Bevölkerung sind zeitweise in ihrer Mobilität eingeschränkt“, sagt sie,
„irgendwann kann es jeden von uns betreffen.“
Es habe sich Vieles gebessert, findet sie, und doch sieht sie noch viel zu oft jene Rampen für Rollstuhlfahrer, die man an „obskure“ Hinter- und Nebeneingänge verdrängt hat, verschämt wirkende Rollstuhl-Hebebühnen und Alurampen, womöglich noch versteckt hinter einer Betonmauer wie Müllcontainer. Diese Architektur kommt ihr vor wie die Krücken im Katalog eines
Sanitätshauses, angeklebt wie ein Sonderpreis-Etikett, das stigmatisiert, weil es signalisiert:
Das ist für „die“, „denen“ hat man noch eine extra Rampe bauen müssen, damit sie auch dabei sein können.
Darüber kann sie sich richtig aufregen, in Fahrt geraten, egal wer ihr gegenüber sitzt. Sie gehe keinem Streit aus dem Weg, um anderen die Augen zu öffnen. „Und manchmal muss man stur sein, um zu überzeugen; ich lass´ mich nicht so schnell entmutigen, wenn einer sagt, das geht nicht.“ Diese Eigenschaft habe sie schon immer ausgezeichnet, aber jetzt hat sie ein Ziel, in dessen Dienst sie ihre Beharrlichkeit stellen kann. Ursula Fuss ist überzeugt: „Es gibt stimmige Konzepte für jede Art von Gebäuden; Rampen können ein wunderschönes Element sein –wenn man sie von Anfang an mitdenkt.“ Dann brauche barrierefreies Bauen keinen Quadratmeter mehr an Fläche und sei auch nicht teurer.
„Aber dafür ist viel Erfahrung und noch mehr Arbeit notwendig.“
An einer Mainzer Kirche dauerte es zwei Jahre, bis „der gordische Knoten gelöst war“. Der Zugang zur Kirche mit ihrer so großzügigen wie abschreckenden Treppenanlage vor dem Haupteingang sollte Rollstuhlfahrern und Gehbehinderten durch eine Rampe erleichtert werden, allerdings favorisierten viele der Verantwortlichen wieder eine jener Nebeneingangslösungen abseits des zentralen Kirchenvorplatzes, auf dem sich die Kirchgänger vor und nach dem Gottesdienst gerne zum Gespräch treffen. Rollstuhlfahrer wären durch ihre Umleitung um den Hauptplatz herum gleichsam exkommuniziert worden von einem wichtigen Teil des Gemeindelebens. Am Ende baute Ursula Fuss eine 66 Meter lange Rampe, deren erste Hälfte mitten auf den Kirchplatz führt, während die zweite Strecke die Höhe vom Kirchplatz zum Haupteingang überwindet. Bald nach der Einweihung habe der oberste Kirchenmann, einst ein Gegner ihres Entwurfs, anerkennend vom
„neuen Pilgerpfad“ zur Kirche gesprochen.
Wenn Ursula Fuss ihren Rollstuhl schiebt, flackert es in den kleinen Vorderrädern durch die Reibung blau und rot und grün wie in den Sohlen mancher Kinderschuhe bei jedem festen Auftreten. Das Geflackere signalisiert:
Alle hinschauen, nicht wegschauen.
Das bunte Flackern bedeutet: Menschen in Rollstühlen können nur nicht gehen, alles andere können sie so gut oder so schlecht wie alle anderen auch und oft genug viel besser; sie haben es deshalb nicht verdient, an Kirchenvorplätzen vorbeigeschleust zu werden und behindert zu werden am Besuch von Museen, Kneipen, Kaufhäusern, Kinos. Ungehinderte Bewegung schaffe Selbstbewusstsein, ist einer ihrer Merksätze.
Früher war sie leidenschaftliche Tänzerin, und dass sie das nicht mehr kann, sei frustrierend.
Aber sie fährt noch Ski, alpin, auf einem Sitz mit drei Kufen drunter. Und sie reist noch.
Fast so viel wie vor dem Sturz. Gerade war sie wieder in Sri Lanka.
In ihrem Büro hängt der Entwurf für eine Rampe des Hotels, in dem sie immer wohnt.
Die Besitzer planen eine Erweiterung mit Ferienwohnungen;
Ursula Fuss´ Rampe, die alle Ebenen der weitläufigen Anlage für Rollstuhlfahrer erschließen würde, wäre 630 Meter lang, es wäre ihre längste. Wie die Hotelbesitzer auf ihren Entwurf reagierten, findet sie „genial“:
„Die sagten nicht: ´Zu lang, zu groß, zu teuer`.
Die sagten: ´Schön, wir könnten die Rampe als einen Meditationsweg für alle Gäste benützen.
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